“Frauen sind selbst schuld, dass sie im 21. Jahrhundert noch so schlecht dastehen.”
Wir durften ein Interview mit zwei bemerkenswerten Frauen führen: Tanja (44) und Nicole (48) sind Lehrerinnen an einem kleinstädtischen Gymnasium und seit acht Jahren ein Paar. Nachdem Tanjas Ehe mit ihrem Ex-Mann geschieden wurde, stellten ihre Gefühle für Nicole eine große Herausforderung für sie, ihre Familie und ihre Kinder dar.
Für lesbian chic plaudern beide über ihr Berufs- und Privatleben aus dem Nähkästchen. Wie lebt es sich als lesbisches Elternpaar mitten in der ostdeutschen Provinz? Was lehrt das Anderssein uns über das aktuell vorherrschende Frauenbild? Und was bedeutet eigentlich Gleichberechtigung?
Wie stehen Sie zu dem Begriff Lesbe?
Nicole: Das ist mir zu einseitig, eine Kategorisierung. Ich kann bis zum heutigen Tag damit nichts anfangen. Zwar empfinde ich das nicht als Schimpfwort, aber ich sehe mich selbst als Frau. Wenn es einen Begriff braucht für Frauen, die Frauen lieben, dann ist es eben „Lesbe“, aber ich selbst empfinde mich nicht so.
Tanja: Ich schon gar nicht. (lacht) Eher habe ich ein anderes Problem. Weil ich mit einem Mann verheiratet war, frage ich mich: Wenn wir in Kategorien denken, bin ich denn wirklich eine Lesbe? Für mich ist das Wort oftmals negativ konnotiert. Wieso? Es wird oftmals negativ verwendet, Frauen werden als Kampflesben bezeichnet. Das assoziiert ein Bild, dem wir beide rein äußerlich überhaupt nicht entsprechen.
Seit Oktober 2017 gibt es in Deutschland endlich die Ehe für alle. Welche Bedeutung hat die Möglichkeit, zu heiraten, für Sie?
(ausgiebiges Lachen)
Tanja: Schön, dass du das ansprichst. Da ich schon einmal verheiratet war, bin ich mir dessen bewusst, dass so eine Unterschrift keine Garantie für irgendetwas ist. Bis 2017 hat Nicole sich zurecht darauf berufen, dass sie keine Pseudo-Gleichheit wolle, die uns zwar die staatlichen Pflichten einer eingetragenen Lebenspartnerschaft aufzwingt, uns aber nicht die Rechte einer richtigen Ehe zugesteht.
Nun hat sich diese Situation 2017 geändert, weshalb ich ab und zu schon vorsichtig nachfrage, ob wir an dem Status nicht etwas ändern sollten.
Bei aller Negativerfahrung bin ich trotzdem so konservativ eingestellt, dass ich auch an die Absicherung denke, die mit einer Ehe im Alter einhergeht. Was die Kinder betrifft, ist die Situation viel schwieriger.
Nicole: Die sind übrigens beide sehr dafür. Aber ich habe es eigentlich schon immer überflüssig gefunden, mir von Staatswegen eine Absolution meiner Beziehung zu holen. Natürlich sind all die rationalen Gründe, die dafürsprechen, nicht vom Tisch zu wischen. Trotzdem finde ich es schöner, wenn man zusammenbleibt, obwohl die Trennung kein Geld kosten würde.
Tanja, welche Reaktionen gab es vonseiten Ihrer Freunde und Familie auf Ihre Partnerschaft?
Tanja: Erstaunlich wenig. Bevor ich auf die Reaktionen meines Umfeldes eingehen konnte, musste ich mich zuerst einmal mit mir selbst auseinandersetzen und mit dem, was in mir vorging. Am Anfang hat es mich total überfordert, dass Privates und Schulisches plötzlich zusammenkam.
Eigentlich gab es nur eine Person in meinem Freundeskreis, die damit überhaupt nicht umgehen konnte – meine beste Freundin. Sie hat sich sehr eigenartig verhalten und das hat unsere Freundschaft sehr belastet. Vielleicht wären wir früher oder später sowieso verschiedene Wege gegangen. Aber letztendlich kam der Bruch durch Bemerkungen wie: „Du hast ja jetzt eine neue Freundin.“
Diese Idee, dass sie sich von Nicole ersetzt fühlt, hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Ich erinnere mich an unser erstes gemeinsames Treffen zu dritt. Wir wollte ein bisschen Zeit gemeinsam verbringen, auch gemeinsam mit den Kindern, aber die Begegnung war letztendlich sehr komisch und unangenehm. Damit hatte ich lange zu kämpfen.
Sie hat auch mal gesagt: „Jetzt, wo du mit einer Frau zusammenbist, können wir gar nicht mehr über unsere Ehemänner lästern.“
Nicole: Und das, obwohl sie eine sehr intelligente Frau ist.
Tanja: Vielleicht ist das nur das Resultat großer Unsicherheit. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte.
Meine Mutter wollte kein Problem daraus machen und hat zu schnell von sich erwartet, das zu akzeptieren. Es gab eine unschöne Episode, in der unbewusst alles mitschwang, was sie sich wahrscheinlich selbst verboten hatte, zu äußern. Sicher hatte sie auch Angst, weil meine Ehe gerade zu Ende war und sie nicht wusste, was mit den Kindern werden sollte. Und sie konnte sich nicht vorstellen, wie das gehen soll, eine Partnerschaft mit einer Frau zu haben. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätte sich eingestanden, wie unsicher und überfordert sie tatsächlich damit war.
Was war die erste Reaktion Ihrer Kinder?
Tanja: Da muss ich zuerst an meine Tochter denken. Sie (damals 5) saß auf der Schaukel, Nicole und ich waren noch gar nicht zusammen – wahrscheinlich spüren Kinder das, ohne zu wissen, was es ist. Nicole und ich schoben sie auf der Schaukel an, als sie fragte: „Nicole, kannst du nicht unser neuer Papa sein?“ Das hat mich erstmal komplett überrumpelt.
Nicole: Mir fiel auch nichts dazu ein.
Tanja: Das war lange immer wieder Thema. Mein Sohn, der „Große“, war erstmal argwöhnisch. Ob die mit dem Metallbaukasten so umgehen kann wie Papa? Er hat uns genau beobachtet, sich auch einmal zwischen uns geschoben. Aber dadurch, dass wir es nie als etwas Außergewöhnliches thematisiert haben, war es eben so. Etwas Selbstverständliches.
Nicole: Irgendwann haben die Kinder natürlich ein Alter, in dem sie mehr hinterfragen. Wir haben darüber gesprochen und gut. Tanjas Sohn hatte deswegen in der Schule nie schlechte Erfahrungen. Ihre Tochter kam in der sechsten Klasse einmal todunglücklich nach Hause, weil jemand gesagt hatte: „Deine Mutter ist eine Lesbe!“ Und sie war irritiert, weil es für sie keinen Unterschied machte, ob Mann oder Frau. Meine Beziehung zu den Kindern ist schließlich sehr harmonisch – im Rahmen dessen, was die Pubertät gerade zulässt.
Tanja: Was uns allen dagegen immer wieder Unbehagen bereitet, ist der rechtliche Status. Das, was Nicole emotional für die Kinder ist, kann juristisch nicht legitimiert werden. Sie kann die Kinder nicht adoptieren, weil ich mir das Sorgerecht mit meinem Ex-Mann teile und um das zu ändern, müsste der schon sehr viel Mist bauen. Selbst wenn wir heiraten würden, würde das die Kinder vor dem Gesetz nicht zu Nicoles Kindern machen.
Nicole: Ich habe Null Rechte was die Kinder betrifft, obwohl ich seit mittlerweile fast acht Jahren mit ihnen zusammenlebe und sie zu mir, denke ich, inzwischen eine engere Bindung haben als zu ihrem biologischen Vater. Aber wenn Tanja morgen etwas zustoßen würde, könnte ich höchstens noch ihre Sachen zusammenpacken.
Tanja: Wir haben uns vom Anwalt beraten lassen, aber auch der sagt, wir haben was das betrifft schlechte Karten. Ich könnte höchstens eine handschriftliche Verfügung aufsetzen, in der ich darauf hinweise, dass Nicole seit vielen Jahren ein feste Bezugsgröße im Leben der Kinder ist. Aber das wäre nur ein Wunsch, den weder der Kindsvater noch das Jugendamt respektieren müssten.
Nicole: Zum Glück ist das Problem nur juristischer Natur, da Tanjas Ex-Mann sich sehr fair verhält.
Nicole, nennen die Kinder Sie Mama?
Nicole: Nein. Das wäre albern. Begriffe, Namen, Etiketten, das ist unwichtig. Die Kinder haben eine Mama, sie haben auch einen Papa, und ich ersetze keine dieser Funktionen. Wir sind Freunde – wenn ich Glück habe, empfinden das die Kinder auch so – und haben eine besondere Beziehung. Mehr kann und muss ich nicht erwarten und das ist gut so.
Tanja: Aber meine Tochter betont immer wieder: „Nicole, du bist die zweite Mama.“
Wie liefen die Elternabende ab, die sie zusammen besuchten? Wurden Sie als homosexuelles Paar anders behandelt?
Nicole: Nein. Wenn wir dort zusammen aufgetaucht sind, haben wahrscheinlich alle sich gefragt: „Wer ist die Frau, mit der Tanja da kommt? Wessen Mutter ist das?“ Das ist ein gesellschaftliches Problem, dass wir nicht wirklich als Paar wahrgenommen werden.
Tanja: Selbst im letzten Urlaub, den wir mit den Kindern verbracht haben. Wir haben einen jungen Mann kennengelernt, wie sich im Nachhinein herausstellte eine Art italienischer VIP, der mich fragte: „Wie gehört ihr eigentlich zusammen? Ist der Junge dein oder ihr Sohn?“ Darauf sagte ich: „Er ist unser Sohn.“
Er war sehr überrascht, dass das bei uns in Deutschland geht: Lehrerin und lesbisch sein. Und er meinte, er wünsche sich sehr, dass die italienische Gesellschaft sich mehr dafür öffnen würde. Man merkt, dass in Italien anders darüber gedacht wird. Als wir abends in Sardinien Hand in Hand gingen, haben alle sich umgedreht und geguckt. Das passiert uns hier nicht.
Wie gehen Sie mit schiefen Blicken um?
Nicole: Ist mir zu 100% gleichgültig. Ich achte ohnehin nicht darauf und bin, was das betrifft, relativ ignorant.
Tanja: Ich habe mich anfangs schon gesorgt, wie es sich denn anfühlen würde mit einer Frau in der Öffentlichkeit. Aber wenn man es nicht selbst zum Problem macht oder als besonders empfindet, sammelt man auch weniger Aufmerksamkeit. Und letztendlich ist es mir egal, wie andere gucken. Es hat uns eher amüsiert, dass einige unserer Kollegen überhaupt nicht deuten konnte, was zwischen Nicole und mir lief.
Nicole: Es war schon niedlich, als die Kollegen es dann langsam und wirklich seeehr langsam verstanden hatten und nicht wussten, wie sie sich uns gegenüber verhalten sollten.
Gab es Ihnen gegenüber je offen homophobe Anfeindungen?
Nicole: Nein, noch nie. Da mag daran liegen, dass wir es nach außen nicht thematisieren. So, wie ich von keinem Menschen erwarte, dass er vordergründig zuerst über seine Sexualität spricht.
Das ist immerhin das einzige, worin ich mich von Meier, Müller, Schulze möglicherweise unterscheide. Ich will ja auch nicht wissen, ob irgendjemand einen Gummifetisch hat. Ich will es nicht wissen! Weil das nicht unser Berührungspunkt sein wird. Mir ist wichtig, wie jemand denkt, welche Ansichten er hat, und nicht seine sexuelle Orientierung. Genauso wenig will ich darauf reduziert oder darüber definiert werden.
Wenn Sie von anderen beschrieben werden, wird Ihre Sexualität dann als Eigenschaft verwendet, um Sie zu charakterisieren?
Nicole: Keine Ahnung, mir gegenüber beschreibt mich niemand.
Tanja: Wir haben eine Kollegin mit dem gleichen Nachnamen und um sie zu unterscheiden, hat man eher darauf zurückgegriffen, zu sagen: die junge oder die alte, die mit den kurzen und die mit den langen Haaren. Aber es ist nie jemand auf die Idee gekommen, zu sagen: die lesbische oder die heterosexuelle.
Nicole: Darüber werden wir nicht definiert, es juckt keinen und um das zu thematisieren ist das hier auch der falsche Raum.
Wurden Sie schon einmal von Schülerinnen oder Schülern aufgrund Ihrer sexuellen Orientierung als Vertrauensperson zu Rate gezogen?
Nicole: Nicht bewusst. Natürlich verstecken wir uns nicht und jeder weiß, dass wir ein Paar sind. Darum meine ich, inzwischen beobachtet zu haben, dass es mehr Mädchen gibt, die kein Geheimnis mehr daraus machen, was sie sind.
Tanja: Das merken wir meistens erst im Nachhinein. Es gab Schülerinnen, denen hat es Mut gemacht, dass wir zwei zu unserer Partnerschaft stehen und kein Problem daraus basteln, sondern vorleben, dass es ganz normal und gut sein kann. Sie wissen, dass wir sie auf einer anderen Ebene verstehen.
Nicole: Wir leben heute in einer anderen Zeit. Ein bisschen beneide ich die Mädchen darum, dass sie heute mit viel mehr Akzeptanz rechnen können. Während meines Studiums hatte ich einen schwulen Freund, daher haben wir das schon thematisiert, bevor ich mir meiner eigenen Vorlieben klar war. Allerdings wird die Homosexualität von Frauen nicht so beziehungsweise anders wahrgenommen als die Homosexualität von Männern. „Schwul“ ist ein Schimpfwort, „Lesbe“ nicht so direkt.
Das hat natürlich auch etwas mit Ernstnehmen zu tun. Weibliche Sexualität wird eben nicht so ernstgenommen wie männliche. Und manchen Mann turnt es wahrscheinlich noch an, wenn er sich vorstellt, was zwischen Frauen läuft. Einerseits ist es bequem, Windschattensegler zu sein, andererseits ist es eine Missachtung, die nicht in unsere aufgeklärte Gesellschaft passt.
Tanja: Erinnere dich an San Francisco.
Nicole: Ja, wir waren im, wie wir dachten, homosexuellen Mekka schlechthin. Im Castro Viertel in San Francisco. Das ist so schwul, dort ist selbst der Zebrastreifen regenbogenfarben. Aber es ist eben männlich homosexuell. Frauen fanden dort gar nicht richtig statt.
Tanja: Wo man auch hinsieht, in den Schaufenstern, auf den Straßen, die Clubs: Männer.
Wie beeinflusst das Lesbischsein Ihre gesellschaftspolitischen Ansichten?
Nicole: Gar nicht. Mein Gehirn funktioniert nicht anders, nur weil ich lieber mit einer Frau zusammenlebe.
Aber Sie sind sich dessen bewusster, wie Sie als Frau wahrgenommen und welche Erwartungen an Ihre Rolle als solche geknüpft werden?
Nicole: Ich finde, Frauen sind an manchen Stellen selbst schuld, dass sie im 21. Jahrhundert noch so schlecht dastehen. Warum stehen sie so schlecht da? Erstens, weil sie sich nicht einig sind. Und zweitens, weil immer noch zu viele Frauen in ein Heimchen- und Prinzessinnen Getue fallen, sobald ein Prinz auf der Matte steht. Dagegen bin ich einigermaßen immun, weshalb ich das aus einer anderen Perspektive betrachten kann.
Ich fürchte, Männer können kumpelhafter netzwerken als Frauen, weil Frauen ab einer gewissen Machtstruktur dazu neigen, sich in Furien zu verwandeln. Viel sinnvoller fände ich es, wenn wir uns zusammenschließen und uns unserer mentalen Stärken bewusstwürden. Dann hätten wir vermutlich viel bessere Unternehmerqualitäten und die Frauenquote wäre einfacher zu erreichen.
Das beste Beispiel, und dafür bewundere ich diese Frau, ist Angela Merkel, schließlich hat sie mehr erreicht als sonst jemand. Politisch sehe ich mich allerdings eher links von der Mitte und das wäre noch genauso, wenn ich mit einem Mann zusammenlebte. Wie ich mich positioniere, ist eine Frage des Intellekts und welcher Weltanschauung ich mich anschließe.
Dann glauben Sie nicht, dass, wenn eine Frau ein konservatives Selbstbild hat und sich eher als Komplettierung des Partners sieht, diese Einstellung Einfluss auf ihre politischen Ansichten hat?
Nicole: Doch, aber dann gehört sie erstmal therapiert. Wie traurig ist sowas im 21. Jahrhundert? Rein formell haben wir Frauen alle Rechte, die auch Männern zustehen. Wir bedienen uns derer nur nicht. Wenn sich eine Frau freiwillig in die Küche-Kinder-Kirche-Rolle schieben lässt, hat sie ein Problem.
Tanja: Ich habe sogar das Gefühl, dass wir uns in der Beziehung wieder etwas zurückentwickeln. Wir fragen uns nur, warum. Allein wegen der derzeitigen Rentensituation halte ich es für Frauen für sehr gefährlich, sich abhängig zu machen. Wenn wir allein Ost- und Westdeutschland betrachten. Wie viele Mütter müssten genau das ihren Töchtern beibringen: Geh nicht in die K-K-K Hausfrauenrolle, sondern sorge für dich selbst.
Früher haben sich viele darauf ausgeruht, dass Männer ihren Frauen einen Unterhalt zahlen mussten, was sicher ungerecht zulasten des Mannes war. Aber das Unterhaltsrecht ist verändert worden, übrigens nicht zugunsten der Frau, und was bleibt ist Null Wertschätzung.
Nicole: Wenn Frauen sich in so eine Rolle drängen lassen, sind sie selbst schuld, denn das ist aktuell besser geregelt als noch vor dreißig Jahren: Männer haben inzwischen die Möglichkeit, sich Elternzeit zu nehmen, sich um die Kinder zu kümmern und es gibt genügend Männer, die das mit Freude und Selbstverständlichkeit machen. Die Kinder in ihren frühen Jahren aufwachsen zu sehen, war lange den Müttern vorbehalten, was nicht fair ist. Zuallererst sind wir Menschen. Väter sind für ihre Kinder ebenso wichtig, wie die Mütter es sind, und wenn jeder danach handeln würde, gäbe es dieses Ungleichgewicht bei der Rente nicht.
Tanja: Leider sehe ich auch an Frauen in meinem Umfeld, die spät Kinder bekommen haben, dass sie nicht loslassen, das Kind nicht abgeben können. Schwangerschaft und Geburt, geht auf das Konto der Frau, beim Stillen haben wir schon die Wahl.
Ich frage dann: „Warum bist du dir das nicht wert? Warum musst du jeden Abend bei dem Kind sitzen, obwohl das auch mal der Vater übernehmen könnte?“ Das Problem ist oftmals die Frau, nicht der Mann. Sie kann oder will ihn nicht machen lassen. Warum? Ich habe es sehr genossen, zwischendurch ein bisschen Freiheit für mich zu haben. Ein herrliches Gefühl, allein im Kino zu sitzen. Ich muss es mir wert sein, mein Eigenleben anzuerkennen.
Nicole: Und sich selbst manchmal nicht so wichtig nehmen. „Keiner kann das so gut wie ich, weil ich die Mutti bin.“
Tanja: Viele unserer Schülerinnen haben Träume, die ich nicht nachvollziehen kann. Klar, sie sehnen sich nach einer gewissen Sicherheit. Aber dass sie sich schon jetzt in einer Doppelrolle sehen, sich darauf einstellen, auf Arbeit zu gehen und den Haushalt zu schmeißen und die Kinder zu erziehen – mit einer Selbstverständlichkeit, das erschreckt mich.
Dann erleben Sie es häufig, dass Schülerinnen von vornherein alles um den traditionellen Lebensentwurf Mann, Kind, Heim herum planen?
Nicole: Ja, und zwar in einer klaren Rollenverteilung. Ich denke manchmal, die 70er Jahre waren völlig umsonst. Die gesamte Emanzipationsbewegung löst sich in Luft auf. Ich glaube, viele Mädels fühlen sich eher peinlich berührt, wenn wir sie dazu auffordern, selbstbewusst aufzutreten und ihre Meinung klar zu kommunizieren. Wenn ich in Geschichte von den 70ern spreche, der sexuellen Befreiung, der Pille und dass Frauen sich weniger von Männern abhängig machten als Jahre zuvor, wissen sie entweder gar nicht, was ich meine oder die Denkweise kommt in ihrem Kosmos einfach nicht vor.
Tanja: Andererseits werden die Schulen in der Umgebung hauptsächlich von Frauen geleitet. Der Schülerrat besteht fast nur aus Mädchen. Und trotzdem begegnet mir dieser konservative Lebensentwurf immer wieder, obwohl es auch anders geht. Wieso?
Nicole: Weil sie dieses kleine bisschen Sicherheit festhalten wollen.
Wie oft kommt es vor, dass Schülerinnen sich in Sie verlieben und wie erfahren Sie davon?
Tanja: Hast du nicht mal vor Kurzem gesagt, dass eine in mich verliebt sei?
Nicole: Kann sein. Ich kriege davon nichts mit.
Tanja: Wahrscheinlich sind es eher die Jungs in der fünften Klasse, die sich mal in eine Lehrerin verlieben.
Gibt es einen gravierenden Unterschied zu heterosexuellen Paaren oder lohnt es sich im Grunde überhaupt nicht, sich darüber zu unterhalten?
Tanja: Nur die Erkenntnis, dass die Beziehung zwischen zwei Frauen nicht leichter oder mit weniger Reibungspunkte behaftet ist, bloß weil sie Frauen sind. Man verliebt sich tatsächlich in den Menschen. Ich musste mir selbst die Frage stellen, was wäre, wenn Nicole aus irgendeinem Grund nicht mehr da wäre. Wäre ich dann definitiv noch lesbisch? Weder würde ich danach explizit nach einer Frau noch nach einem Mann suchen. Wobei ich die Frage verstehen kann. „Bist du es? Oder doch nicht?“ Was bin ich eigentlich? Ich höre auf meinen Bauch und mein Herz, ohne dabei Gedankenkonstrukte zu entwickeln.
Die Namen wurden aus Respekt vor der Privatsphäre geändert.
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